Forschendes Lernen gewinnt im naturwissenschaftlichen Unterricht zunehmend an Bedeutung. Ob und unter welchen Bedingungen dieser Ansatz effektiver ist als Unterricht mit vorwiegend lehrerzentrierter Instruktion, klärt die Metaanalyse „Experimental and quasi-experimental studies of inquiry-based science teaching. A meta-analysis“ (Furtak, Seidel, Iverson & Briggs, 2012). In diesem Kurzreview werden die zentralen Befunde dargestellt und eingeordnet.
Metaanalyse im Überblick
Fokus der Studie: Lernwirksamkeit von Unterricht mit Forschendem Lernen in naturwissenschaftlichen Fächern
Zielgruppe: SchülerInnen der Primar- und Sekundarstufe unterschiedlicher Schularten, Jahrgangsstufen und Länder
Durchschnittliche Effektstärke: Mittlerer positiver Effekt hinsichtlich des naturwissenschaftlichen Verständnisses zugunsten von Forschendem Lernen (d = 0.50) im Vergleich zu lehrerzentriertem Unterricht
Weitere Befunde: Forschendes Lernen ist besonders wirksam bei Aktivitäten, die dazu anregen, den Lernstoff zu hinterfragen und wenn Lernaktivitäten stärker durch Lehrkräfte gesteuert werden
Einleitung
Reformbemühungen der vergangenen Jahre um den naturwissenschaftlichen Unterricht verweisen zunehmend auf die Bedeutung von Forschendem Lernen im Unterricht. Diese Entwicklung wird zudem von aktuellen Bildungsstandards und Lehrplänen unterstrichen. Forschendes Lernen bedeutet, dass SchülerInnen ähnlich wie Forschende aktiv und kollaborativ in Prozesse der Wissenserzeugung eingebunden sind, indem sie selbst zu naturwissenschaftlichen Fragen recherchieren, Experimente entwickeln und gewonnene Ergebnisse interpretieren.
Die Popularität dieses Ansatzes beruht auf der Grundannahme, dass SchülerInnen in einem derart gestalteten Unterricht ein besseres Verständnis naturwissenschaftlicher Inhalte erlangen als mit lehrerzentrierten Ansätzen. Diese Annahme ist jedoch bisher nicht umfassend belegt. So gab es in der Vergangenheit teils stichhaltige Kritik an offenen Lernumgebungen und schülerzentriertem Unterricht. Dabei wurden die Vorteile strukturierter Lernumgebungen mit direkter, lehrerzentrierter Instruktion betont, bei der detailliert geplante Experimente beispielsweise von der Lehrkraft vorgeführt und anschließend gemeinsam besprochen werden. Zum Vergleich dieser beiden Unterrichtsansätze sind zahlreiche Studien entstanden. Diese Metaanalyse fasst nun die zentralen Befunde zusammen.
Worum geht es in dieser Studie?
Lehrerzentrierte Instruktion oder Forschendes Lernen: Diese Metaanalyse geht der Frage nach, welcher der beiden Unterrichtsansätze das Verständnis naturwissenschaftlicher Inhalte bei SchülerInnen besser fördert. Die Grundlage für die Analyse bilden 37 Primärstudien, die im Zeitraum von 1996 bis 2006 in Zeitschriften mit Begutachtungsverfahren veröffentlicht wurden. Ausgewählt wurden Primärstudien mit experimentellem und quasi-experimentellem Untersuchungsdesign, die im Klassenzimmer durchgeführt wurden und die das naturwissenschaftliche Verständnis der SchülerInnen jeweils vor und nach der Unterrichtseinheit erfassten. Die Primärstudien beziehen verschiedene naturwissenschaftliche Fächer, Jahrgangsstufen (hauptsächlich Sekundarstufe), Länder und Schularten in ihre Untersuchungen ein.
Ähnlich wie bisherige Metaanalysen ermittelt die vorliegende Studie die Wirksamkeit von Forschendem Lernen durch einen Vergleich mit lehrerzentriertem Unterricht. Sie geht jedoch über bisherige Metaanalysen hinaus, indem sie explizit berücksichtigt, dass Forschendes Lernen und lehrerzentrierter Unterricht in den Primärstudien zum Teil ganz unterschiedlich definiert und umgesetzt werden. Um die verschiedenen Umsetzungsformen genauer zu definieren und einzuordnen, konzentrieren sich die AutorInnen auf zwei wesentliche Dimensionen: Zum einen beschreiben sie die einzelnen Lernaktivitäten dahingehend, welches kognitive Aktivierungspotenzial sie besitzen. Zum anderen erfassen sie, wie sehr die Steuerung der Lernprozesse in den Händen der Lehrkraft liegt ‒ beispielsweise, ob SchülerInnen genaue Instruktionen zur Durchführung einzelner Lernaktivitäten erhalten. Damit wollen die AutorInnen nicht nur präziser bestimmen, ob ein Unterrichtsansatz lernwirksamer ist als der andere, sondern auch, welche Faktoren im Einzelnen dazu beitragen.
Was findet diese Studie heraus?
Insgesamt erzielen SchülerInnen bei der Anwendung von Forschendem Lernen im Vergleich zu lehrerzentriertem Unterricht höhere Lernerfolge (d = 0.50; mittlere Effektstärke). Durch das differenzierte Vorgehen der AutorInnen liefert die Metaanalyse weitere Hinweise darauf, welche Lernaktivitäten sich bei der Umsetzung des Forschenden Lernens als besonders lernwirksam erweisen.
Mit Bezug auf die erste Dimension – der Frage nach dem kognitiven Aktivierungsgehalt der verschiedenen Unterrichtsansätze – zeigt sich, dass insbesondere epistemisch orientierte Aktivitäten als Bestandteile des Unterrichts mit Forschendem Lernen den Unterschied ausmachen (d = 0.75). Mit epistemisch orientierten Aktivitäten sind solche Aktivitäten gemeint, die SchülerInnen anregen, Erklärungen für naturwissenschaftliche Phänomene und Befunde zu entwickeln und beispielsweise mit den Ergebnissen eigener Experimente zu begründen. Diese Aktivitäten unterstützen SchülerInnen dabei, die besondere Art und Weise zu verstehen, wie Forschende in den Naturwissenschaften arbeiten, wie Wissen entsteht und wie es sich durch neue Erkenntnisse verändern kann.
Waren SchülerInnen neben den epistemisch orientierten Aktivitäten zusätzlich in prozedurale und soziale Aktivitäten (das heißt, gemeinsam Forschungsfragen oder Experimente entwickeln, Daten sammeln und aufbereiten sowie Ergebnisse präsentieren und diskutieren) involviert, erwies sich der Unterricht ebenfalls als besonders wirksam (d = 0.72). Mit Bezug auf die zweite Dimension – der Lernsteuerung – ergaben die Vergleiche der Untersuchungen, dass Forschendes Lernen insbesondere dann höhere Effektstärken aufweist, wenn die Unterrichtseinheiten stärker lehrergesteuert sind – im Verhältnis zu Unterricht, bei dem die Umsetzung überwiegend durch die Schüler selbst gesteuert wird.
Wie bewertet das Clearing House Unterricht diese Studie?
Die Clearing House Unterricht Research Group bewertet die Metaanalyse anhand der folgenden fünf Fragen und orientiert sich dabei an den Abelson-Kriterien (1995):
Wie substanziell sind die Effekte?
Gemäß der üblichen Kategorisierung nach Cohen (1988) liegt die durchschnittliche Effektstärke aller einbezogenen Einzelstudien im mittleren Bereich (d = 0.50). Das bedeutet, dass ca. 70 % der SchülerInnen über ein substanziell besseres Verständnis naturwissenschaftlicher Inhalte nach Aktivitäten im Sinne des Forschenden Lernens verfügen als nach Unterricht mit lehrerzentrierter Instruktion. Differenzierte Vergleiche in Bezug auf einzelne Bestandteile des Unterrichts zeigen, dass dieser bereits beachtliche durchschnittliche Effekt noch höher ausfallen kann, wenn Forschendes Lernen so eingesetzt wird, dass epistemische Aktivitäten aktiviert werden (d = 0.75) bzw. die einzelnen Lernaktivitäten vorwiegend lehrergesteuert begleitet werden (d = 0.65). Dieses Ergebnis bestätigt Befunde aus bisherigen Metaanalysen (Vergleiche Kurzreview 6), die ähnliche Effektstärken (d = 0.65) festgestellt haben.
Wie differenziert sind die Ergebnisse dargestellt?
Die Differenziertheit der berichteten Effekte wird von der Clearing House Unterricht Research Group danach beurteilt, ob und wie detailliert die Bereiche Schulfächer, Jahrgangsstufen und Erfolgskriterium jeweils untersucht werden. Die Metaanalyse fokussiert hier jedoch ausschließlich auf inhaltliche Aspekte der Umsetzungsformen von Forschendem Lernen und nimmt keine weiteren Differenzierungen vor.
Wie verallgemeinerbar sind die Befunde?
Die vorliegende Metaanalyse berichtet ausschließlich Befunde über Mittelwerte von Effektstärken und vergleicht diese Mittelwerte (sogenannte Kontrastanalysen). Übliche inferenzstatistische Verfahren, auf deren Grundlage Aussagen über die Verallgemeinerbarkeit von Effekten getroffen werden können, fanden keine Anwendung. Damit sind statistisch abgesicherte Aussagen zur Verallgemeinerbarkeit des Gesamteffekts nicht möglich. Die berücksichtigten Primärstudien repräsentieren zwar unterschiedliche Kontexte (Fächer, Klassenstufen und Länder), separate Befunde werden dafür jedoch nicht berichtet. Eine weitere Einschränkung auf der Basis von Primärstudienstichproben ergibt sich dadurch, dass ein Großteil der einbezogenen Studien bereits einige Jahre zurückliegt (die aktuellste Studie ist von 2006) und somit keine Aussagen über jüngste Forschungsentwicklungen zu Forschendem Lernen getroffen werden können. Aktuelle inferenzstatistische Analysen zur Generalisierbarkeit des Unterrichtsansatzes finden sich in der Metaanalyse von Lazonder und Harmsen (2016; siehe Kurzreview 5).
Was macht die Metaanalyse wissenschaftlich relevant?
Die Studie leistet einen wichtigen Beitrag, indem sie das Spektrum an Möglichkeiten, wie Forschendes Lernen im Unterricht eingesetzt werden kann, genauer bestimmt. Basierend auf der zweidimensionalen Kategorisierung des Unterrichtsansatzes nach Aktivierungsgehalt und Lernsteuerung liefert die Metaanalyse differenziertere Vergleiche als frühere Untersuchungen. Die gewonnenen Ergebnisse lassen Rückschlüsse darauf zu, wie Lernaktivitäten im Rahmen des Forschenden Lernens effektiv gestaltet und kombiniert werden können. Die Ergebnisse zeigen damit nicht nur, dass dieser Unterrichtsansatz effektiv ist, sondern auch, wie sein Potenzial besser ausgeschöpft werden kann. So bietet diese Metaanalyse eine aussagekräftige Grundlage für künftige Forschungsbemühungen sowie für kontinuierliche Verbesserungen der Unterrichtspraxis.
Wie methodisch verlässlich sind die Befunde?
Die Offenlegung und Begründung des methodischen Vorgehens entspricht teilweise den Kriterien gängiger Anforderungskataloge (z.B. APA Meta-Analysis Reporting Standards). Die einzelnen Schritte des Erstellungsprozesses dieser Metaanalyse sind unterschiedlich gut dokumentiert. So ist der Suchprozess nachvollziehbar beschrieben, die Schritte zur Auswahl der Studien und die vorgenommenen statistischen Analysen hingegen sind nur teilweise nachvollziehbar und schlüssig begründet. Zu mehr Klarheit hätte auch beigetragen, wenn die Art und Weise, wie Lernerfolg innerhalb der Primärstudien gemessen wurde, transparenter dargestellt worden wäre. Weitere Informationen zu den Beurteilungskriterien finden Sie online in unserem Rating Sheet.
Fazit für die Unterrichtspraxis
Die Metaanalyse bezieht sich ausschließlich auf Primärstudien, die im Klassenzimmer durchgeführt wurden und lässt damit Rückschlüsse auf effektive Unterrichtspraxis zu. Sie liefert zudem eine genaue Beschreibung, welche Lernaktivitäten beim Forschenden Lernen besonders wirksam sind. Insgesamt erweist sich Unterricht mit Forschendem Lernen gegenüber lehrerzentriertem Unterricht in den Studien als überlegen. Dieser Befund deutet darauf hin, dass Forschendes Lernen und entsprechende Reformbemühungen grundsätzlich der richtige Weg sind, um das naturwissenschaftliche Verständnis von SchülerInnen besser als bisher zu fördern.
Naturwissenschaftlicher Unterricht ist dann besonders erfolgreich, wenn SchülerInnen ähnlich wie Forschende aktiv und gemeinschaftlich am Prozess der Wissenserzeugung beteiligt sind. Damit ist das ganze Spektrum an Forschungsaktivitäten gemeint: Fragestellungen entwickeln, Experimente und Untersuchungen konzipieren und umsetzen, Daten und Ergebnisse auswerten sowie Befunde interpretieren und erklären. Gerade die letztgenannten sogenannten epistemischen Aktivitäten, bei denen SchülerInnen eigene Befunde einordnen und ihre Forschungsaktivitäten reflektieren, erweisen sich als besonders hilfreich für das Verständnis naturwissenschaftlicher Inhalte. Lehrkräften kommt zudem eine bedeutsame Rolle in der Unterstützung der Lernprozesse zu: Die Eigenaktivität, zu der Forschendes Lernen SchülerInnen anregt, kann vorwiegend dann in hohe Lernerträge übersetzt werden, wenn Lehrkräfte die einzelnen Lernaktivitäten anleiten und begleiten.
Studienbeispiel
In ihrer Studie ermittelten Alexander und Kollegen (2002) einen besonders großen Effekt beim Vergleich einer Unterrichtseinheit mit Forschenden Lernen gegenüber einer lehrerzentrierten Unterrichtseinheit. Im Themengebiet »Astronomie« wurden die SchülerInnen der sechsten und siebten Jahrgangsstufe in zwei verschiedenen Gruppen (Experimentalgruppe vs. Kontrollgruppe) angeleitet, sich mit Galileo und davon ausgehend mit verschiedenen Weltbildern auseinanderzusetzen. Im lehrerzentrierten Unterricht wurden die wichtigsten Konzepte dieses Themengebietes ausschließlich durch die Lehrkraft aufbereitet und vermittelt.
Im Unterricht mit Forschendem Lernen nahmen SchülerInnen die Perspektive Galileos und anderer wichtiger Figuren selbst ein und waren angehalten, sie im historisch-philosophischen Kontext zu hinterfragen (epistemische Aktivierung). Sie werteten Texte nach vorgegebenen Leitfragen aus, präsentierten ihre Ergebnisse und stellten sie anschließend zur Diskussion. Gerade wenn Lehrkräfte stärker die Steuerung dieser Aktivitäten übernahmen, konnte der innovative Ansatz seine größere Effektivität im Vergleich zur direkten Instruktion demonstrieren.