Kinder entwickeln bereits früh geschlechterstereotype Interessen für verschiedene Inhalte und Fächer. Da Lehrkräfte und die schulische Umgebung einen entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung von Interessen und Motivation haben können, wurden in den letzten Jahren gezielte Interventionen entwickelt, um diesen geschlechterstereotypen Einstellungen entgegenzuwirken – zum Beispiel der Girls’Day und Boys’Day. Doch fördern solche Interventionen die Einstellungen, Interessen und Motivation (zusammengefasst: die motivational-affektiven Merkmale) von Mädchen und Jungen gleichermaßen? Dieser und weiteren Fragen sind Lesperance, Hofer, Retelsdorf und Holzberger in ihrer Metaanalyse „Reducing gender differences in student motivational-affective factors: A meta-analysis of school-based interventions“ aus dem Jahr 2022 nachgegangen.
Metaanalyse im Überblick
Fokus der Studie: Geschlechtsspezifische Unterschiede in den Effekten schulbasierter Interventionen auf motivational-affektive Merkmale von SchülerInnen
Zielgruppe: 3458 SchülerInnen der Primar- und Sekundarstufe
Effektstärke: Mittlerer, signifikanter Effekt für Mädchen (g = 0.49) und Jungen (g = 0.28)
Weitere Befunde:
- In MINT-Fächern stärkere Interventionseffekte für Mädchen als für Jungen
- Stärkerer Effekt bei Mädchen, wenn Interventionen direkt und geschlechtsspezifisch ausgerichtet
Einleitung
Großangelegte Studien wie PISA zeigen immer wieder geschlechtsspezifische Unterschiede in motivational-affektiven Merkmalen: Mädchen zeigen tendenziell mehr Interesse und positivere Einstellungen für bzw. gegenüber sprachlich-künstlerischen Fächern, Jungen mehr für bzw. gegenüber naturwissenschaftlich-mathematischen Fächern[*]. Motivational-affektive Merkmale beeinflussen, welche Ziele SchülerInnen als wünschenswert erachten, welche Handlungen sie initiieren und bei welchen Handlungen sie Ausdauer zeigen. Dementsprechend hängen diese Merkmale auch eng mit der (schulischen) Leistung von SchülerInnen, ihren späteren Bildungsentscheidungen (z.B. Aufnahme eines naturwissenschaftlichen Studiums) und ihrer Berufswahl zusammen. Geschlechtsspezifische Unterschiede in motivational-affektiven Merkmalen können damit bestehende Bildungsungleichheiten verstärken.
Um allen SchülerInnen unabhängig ihres Geschlechts gleiche Bildungschancen zu eröffnen, sind in den letzten Jahren zahlreiche schulbasierte Interventionen entwickelt worden, die motivational-affektive Merkmale von allen SchülerInnen fördern sollen. Diese schulbasierten Interventionen adressieren die Veränderung von motivational-affektiven Merkmalen und Geschlechterstereotypen dabei entweder direkt (z.B. durch ein spezifisches Selbstwirksamkeitstraining oder explizite Reflexion von Geschlechterstereotypen) oder indirekt (z.B. durch den Einsatz von spielbasierten oder kooperativen Lernformen). Bislang ist aber nicht klar, ob solche Interventionen die motivational-affektiven Merkmale von Mädchen und Jungen gleichermaßen fördern können. Hier setzt die Metaanalyse von Lesperance und KollegInnen an. Die AutorInnen werten systematisch aus, ob und wie bestehende schulbasierte Interventionen motivational-affektive Merkmale bei Mädchen und Jungen insbesondere in den jeweils stereotyp benachteiligten Fächern fördern können.
[*] Da die der Metaanalyse zugrundeliegenden Daten ein binäres Geschlechterverhältnis abbilden, unterscheiden wir in diesem Kurzreview nur zwischen Mädchen und Jungen.
Worum geht es in dieser Studie?
Lesperance und KollegInnen analysieren in ihrer Metaanalyse, ob schulbasierte Interventionen die motivational-affektiven Merkmale von Mädchen und Jungen gleichermaßen fördern können. Die Datenbasis bilden insgesamt 20 Einzelstudien, die zwischen 1981 und 2019 in internationalen wissenschaftlichen Zeitschriften und Dissertationen publiziert wurden. Grundlage der 20 Einzelstudien sind Daten von 3458 SchülerInnen der Primar- und Sekundarstufe. Die AutorInnen berücksichtigten in ihrer Metaanalyse nur Studien, die ein (quasi)experimentelles Forschungsdesign sowie einen Prä- und Posttest aufwiesen.
Im Rahmen von Moderatoranalysen untersuchen die AutorInnen zudem, ob weitere Einflussfaktoren des Kontexts oder der Intervention die geschlechtsspezifischen Effekte der schulbasierten Interventionen beeinflussen. Sie werten beispielsweise aus, ob das Schulfach, in dem die Intervention durchgeführt wurde (Kontextmerkmal) oder die Interventionsstrategie (Interventionsmerkmal) einen Einfluss auf den Effekt haben. Die in den Moderatoranalysen untersuchten Variablen finden Sie in der untenstehenden Tabelle.
Kategorie | Variablen |
---|---|
1. Kontext | • Schulfach (Mathematik, Naturwissenschaften) • Schulstufe (Primarstufe, Sekundarstufe 1 und 2) |
2. Intervention | • Interventionsstrategie (direkte Förderung, z.B. sogenannte psychosoziale Interventionen, die direkt motivational-affektive Merkmale adressieren vs. Indirekte Förderung: verschiedene instruktionale Strategien, z.B. problembasiertes, kooperatives oder spielbasiertes Lernen) • Geschlechtsspezifische Ausrichtung der Intervention (ja/ nein) • Interventionsdauer (in Wochen) • Motivational-affektive Merkmale: • Motivationale Merkmale: Motivation, Interesse, Wert, Engagement • Selbst-Schemata: Selbstkonzept, Selbstwirksamkeit, Selbstvertrauen, Stereotype • Einstellungen • Affektive Merkmale: Freude, Angst, und Zufriedenheit |
Was findet diese Studie heraus?
Die Ergebnisse der Metaanalyse zeigen, dass Mädchen und Jungen, die an schulbasierten Interventionen teilgenommen hatten, höhere Werte in ihren motivational-affektive Merkmalen aufwiesen als Vergleichsgruppen ohne Intervention. Mädchen (g = 0.49; Konfidenzintervall g = 0.27 bis g = 0.71) profitieren – deskriptiv betrachtet – stärker von den Interventionen als Jungen (g = 0.28; Konfidenzintervall g = 0.01 bis g = 0.55). Dieser Unterschied war allerdings statistisch nicht signifikant.
Bei den Moderatoranalysen zeigen sich für die Interventionsstrategie und die Ausrichtung der Intervention signifikante Unterschiede zugunsten der Mädchen. Mädchen erzielten bei direkter Förderung signifikant größere Effekte (g = 0.53) als Jungen (g = 0.19). Mädchen berichteten außerdem signifikant größere Zuwächse in ihren motivational-affektiven Merkmalen bei geschlechtsspezifisch ausgerichteten Interventionen (g = 0.63) im Vergleich zu nicht geschlechtsspezifisch ausgerichteten Interventionen (g = 0.20).
Die weiteren Moderatoranalysen ergaben keine signifikanten Unterschiede hinsichtlich des Effekts schulbasierter Interventionen. So profitierten Mädchen und Jungen gleichermaßen von schulbasierten Interventionen – unabhängig davon, ob diese im naturwissenschaftlichen oder mathematischen Unterricht durchgeführt wurden. Auch die Schulstufe, die Dauer der Intervention und die Art des motivational-affektiven Merkmals beeinflussten die positiven Effekte der Interventionen nicht.
Weitere Details und Einzelbefunde sind der Gesamtübersicht zu entnehmen.
Wie bewertet das Clearing House Unterricht diese Studie?
Die Clearing House Unterricht Research Group bewertet die Metaanalyse anhand der folgenden fünf Fragen und orientiert sich dabei an den Abelson-Kriterien (1995):
Wie substanziell sind die Effekte?
Die durchschnittliche Effektstärke liegt in dieser Metaanalyse für Mädchen bei g = 0.49 und für Jungen bei g = 0.28. Diese Effektstärke bedeutet, dass etwa 70 % der Mädchen bzw. 61 % der Jungen, die an einer schulbasierten Intervention teilgenommen hatten, höhere Ausprägungen in ihren motivational-affektiven Merkmalen aufwiesen als der Durchschnitt der SchülerInnen aus den Kontrollgruppen (ohne Intervention). Diese Effekte sind über alle untersuchten Kontextmerkmale (Schulstufe und Schulfach) und die untersuchten motivational-affektiven Merkmale hinweg stabil. Es zeigte sich jedoch, dass durch eine direkte (g = 0.53) und geschlechtsspezifische Förderung (g = 0.63) der Effekt für Mädchen signifikant vergrößert werden kann.
Zur Substanz der Effekte trägt zudem bei, dass die AutorInnen bei der Auswahl der Einzelstudien strikte Qualitätskriterien genutzt (u.a. Standardkriterien des What Works Clearinghouse) und so nur Studien mit zuverlässigen Forschungsdesigns und zuverlässigen Messverfahren berücksichtigt haben. Es finden sich keine Anzeichen für Publikationsverzerrungen, sog. publication bias (also eine überdurchschnittliche Anzahl positiver Ergebnisse), in der Metaanalyse, was die Substanz weiter unterstützt.
Erfahren Sie mehr über die Einschätzung von Effektstärken in unserem Handout.
Wie differenziert sind die Ergebnisse dargestellt?
Die Effektstärken werden differenziert für MINT-Schulfächer (Mathematik, Naturwissenschaften), Schulstufen (Primarstufe, Sekundarstufe I und II) sowie verschiedene Arten von motivational-affektiven Merkmalen berichtet. Die Unterschiede in diesen drei Bereichen sind jedoch nicht statistisch signifikant. Dieser Befund spricht dafür, dass sich schulbasierte Interventionen zur Förderung motivational-affektiver Merkmale bei Mädchen und Jungen innerhalb dieser Bereiche ähnlich positiv auswirken.
Wie verallgemeinerbar sind die Befunde?
Der statistisch signifikante positive Gesamteffekt (jeweils für Mädchen und Jungen) spricht dafür, dass schulbasierte Interventionen motivational-affektive Merkmale auf vielfältige Art und Weisen fördern können. Grundsätzlich kann von hoher Generalisierbarkeit ausgegangen werden, da die gefundenen positiven Effekte unabhängig von Schulfächern, Schulstufen, Interventionsdauern und den spezifischen motivational-affektiven Merkmalen sind.
Allerdings kann angenommen werden, dass Anzahl und Größe der eingehenden Studien die Ergebnisse der Moderatoranalysen entscheidend beeinflussen. Bei der vorliegenden, limitierten Studienlage konnten Lesperance und KollegInnen bestimmte, womöglich relevante, Moderatoren nicht berücksichtigen. Eine umfangreichere Studienlage, die beispielsweise auch geschlechtsspezifische Unterschiede in stereotyp weiblichen Fächern berücksichtigt, könnte differenziertere Befunde zur Effektivität schulbasierter Interventionen ermöglichen.
Was macht die Metaanalyse wissenschaftlich relevant?
Die vorliegende Metaanalyse ist wissenschaftlich bedeutsam, da sie die bereits bekannte Forschungsthematik zu Interventionen rund um motivational-affektive Merkmale um eine wichtige, geschlechtsspezifische Perspektive ergänzt. Sie bietet einen umfassenden Blick auf verschiedene Gestaltungsmöglichkeiten von schulbasierten Interventionen, die sich für die Förderung motivational-affektiver Merkmale von Mädchen und Jungen als wirksam gezeigt haben.
Aus wissenschaftlicher Sicht ist zudem bedeutsam, dass diese Metaanalyse als Registered Report veröffentlicht wurde. Die AutorInnen haben die Metaanalyse präregistriert sowie alle Materialien auf dem Open Science Framework zugänglich gemacht, was die Nachvollziehbarkeit des Prozesses, die Replizierbarkeit der Ergebnisse und damit die wissenschaftliche Glaubwürdigkeit der Befunde deutlich erhöht.
Nicht zuletzt zeigt die Metaanalyse auch Forschungsdesiderate bestehender Forschung auf: Nur wenige Studien zu schulbasierten Interventionen berichten explizit geschlechtsspezifische Effekte. Bislang gibt es außerdem kaum Studien, die die Effekte schulbasierter Interventionen für Jungen in stereotyp benachteiligten Fächern wie Schreiben und Lesen untersuchen.
Wie methodisch verlässlich sind die Befunde?
Die methodische Verlässlichkeit wird auf Grundlage eines Ratingsystems (basierend auf u.a. Meta-Analysis Reporting Standards der APA) eingeordnet. Die Transparenz und Begründung des methodischen Vorgehens entsprechen größtenteils den Kriterien dieses Ratingsystems. Das Vorgehen bei der Suche nach relevanten Studien, bei der Studienauswahl, der Kodierung und der statistischen Analyse sind weitgehend offengelegt und nachvollziehbar beschrieben. Eine detailliertere Beurteilung ist im Begleitmaterial verfügbar (Rating Sheet).
Fazit für die Unterrichtspraxis
Motivational-affektive Merkmale lassen sich durch schulbasierte Interventionen fördern – bei Mädchen und Jungen gleichermaßen. Es lohnt sich also Zeit dafür in schulbasierten Workshop-Reihen oder Projektwochen einzuräumen, um Stereotypisierung in verschiedenen Fächern zu adressieren. Die förderlichen Strategien der Interventionen können auch direkt im (eigenen) Unterricht eingesetzt werden: So lohnt es sich beispielsweise, die SchülerInnen gezielt nach Vorbildern suchen zu lassen, die dem jeweiligen Geschlechterstereotyp widersprechen. Gerade beim Umgang mit Fehlern oder Misserfolgen, lassen sich durch die Unterstützung eines „Growth Mindset“ (z. B. durch die Formulierung „das kann ich noch nicht“) motivational-affektive Merkmale fördern. Schließlich ist es auch gewinnbringend, SchülerInnen immer wieder über die persönliche Bedeutung eines Themas nachdenken und miteinander diskutieren zu lassen. Die Wege zur Förderung motivational-affektiver Merkmale sind also vielfältig.
Die Befunde der aktuellen Metaanalyse zeigen darüber hinaus, dass in naturwissenschaftlich-mathematischen Fächern Mädchen – das stereotyp benachteiligte Geschlecht – vor allem dann profitieren, wenn gezielt geschlechtsspezifische Maßnahmen ergriffen und motivational-affektive Merkmale direkt gefördert werden. Es kann davon ausgegangen werden, dass vor allem SchülerInnen mit niedrigen Startwerten (z. B. wenig Interesse für bestimmte Fächer), also z.B. das jeweils stereotyp benachteiligte Geschlecht, von Maßnahmen profitieren. Inwiefern das so auch auf Fächer zutrifft, in denen Jungen stereotyp benachteiligt sind (z. B. beim Lesen und Schreiben) wird künftige Forschung beantworten.
Studienbeispiel
Falco und Summers (2019) untersuchten in einem Experiment, ob eine schulbasierte Intervention in Form einer Karriereberatung die Selbstwirksamkeitserwartung von Mädchen im Hinblick auf ihre Berufswahlkompetenzen und ihre MINT-Kompetenzen steigern kann. Dafür teilten sie eine Gruppe von 88 Schülerinnen einer amerikanischen High-School im Alter von 14 bis 16 Jahren zufällig entweder einer Interventionsgruppe oder einer Kontrollgruppe ohne Intervention zu. Die 44 Schülerinnen der Interventionsgruppen nahmen in den folgenden 9 Wochen einmal pro Woche an einem 50-minütigen Gruppenworkshop teil. Die Themen und didaktischen Methoden der Gruppenworkshops variierten dabei von Woche zu Woche. So gab es u. a. Reflexionsübungen zu Wert und Nutzen verschiedener Bildungs- oder Berufsziele in MINT-Bereichen, Aufklärung über MINT-Berufe und -Berufswege sowie Übungen zum persönlichen „Growth Mindset“. Vor dem Hintergrund der untersuchten Interventionsmerkmale der vorliegenden Metaanalyse steht diese Intervention beispielhaft für eine geschlechtsspezifische Ausrichtung (auf Mädchen) und eine direkte Interventionsstrategie.
Um die Wirksamkeit der Karriereberatung zu bestimmen, bearbeiteten alle 88 Mädchen vor und nach der Intervention einen Fragebogen zu ihrer Selbstwirksamkeitserwartung. Die Ergebnisse zeigten, dass Mädchen der Interventionsgruppe nach der Intervention (Posttest) höhere Selbstwirksamkeitserwartung aufwiesen als zu Beginn (Prätest). Die Selbstwirksamkeitserwartung der Kontrollgruppe hatte sich nicht verändert. Darüber hinaus zeigten die Mädchen der Interventionsgruppe nach der Intervention eine signifikant höhere Selbstwirksamkeitserwartung im Hinblick auf ihre Berufswahl und ihre MINT-Kompetenzen als die Mädchen der Kontrollgruppe.